Routendaten: Reisebericht Königsberg

Reisebericht: Bikertour nach Königsberg von Nr. 871
Wolfram Riedel

 
Nein, animiert zu einer Motorradtour quer durchs „Kaliningrader Gebiet“, also in die seit Kriegsende zu Russland gehörende Region Königsberg, hat uns niemand. Im Gegenteil. Wohlmeinender Rat hielt sich in engen Grenzen. Vermittelter Erfahrungsschatz – sowohl vom ADAC als auch von Agenturen, die sich anbieten, Visum und Einladung zu beschaffen – fällt ziemlich dürftig aus. Grau ist alle Theorie, fanden wir bestätigt. Richtiges und Wichtiges lässt eben immer erst eigenes Erleben erkennen. Allein das macht Reisen spannend.

„Ihr wollt mit dem Motorrad nach Russland? – Und wie kommt ihr wieder zurück? – Mit der Bahn? – Ketzerische Anspielungen auf den vermeintlich hohen Grad der Wahrscheinlichkeit, dass uns die Motorräder abhanden kommen können, gab es bei der Reisevorbereitung zur Genüge, zumal unser Maschinenpotenzial aus durchaus „leckeren“ Lockvögeln für professionelle Langfinger bestand. Mit von der Partie waren eine chromblitzende Harley Davidson V-Rod (also die mit dem Porsche-Motor), zwei stattliche Boxer-BMWs (eine GS 1150 und eine RT 1150) und mit der Yahama FJR 1300 A(BS) ein imposanter Vertreter der Kategorie Reisetourer. (Allesamt in privatem Besitz. Also keine Testobjekte).

Um es kurz zu machen: Zwischenfälle der befürchteten Art gab es nicht. Alle vier Bikes sind in ihre heimatlichen Garagen zurückgekehrt. Möglicherweise ist das aber vorbeugenden Maßnahmen zu verdanken, die wir trafen: Über Nacht wurden jeweils zwei Maschinen miteinander verkettet. Ob sie wollten oder nicht. Stark annehmen muss man ja, dass eine Harley-Davidson selbst ausnahmsweise keinen Bock hat, einer BMW oder Yamaha gemeinhin näher zu kommen als unvermeidlich.

Obendrein wählten wir generell kleinere Hotels, die über ein gesichertes Terrain für die Fahrzeuge übernachtender Gäste verfügen. Solches Prinzip schließt freilich zwangsläufig ein, ganz propere Hotels links liegen zu lassen, die zwar Unterkunft bieten könnten, aber weder abschließbaren Parkraum haben noch einen Security-Man beschäftigen, der rund um die Uhr wacht. Solchen Aufpassern steckt man am besten nicht erst am Morgen etwas zu. Frühe Anerkennung schärft die Sinne für die Nacht! Fünf Euro werden immer gern genommen. Dollars auch.

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Gesicherter Hotelparkplatz. Preiswerte und gediegene Übernachtung an der Masurischen Seenplatte

Dass es nicht einmal ein Tagesvisum an der Grenze zur russischen Eklave gibt, hat sich offenbar noch nicht herumgesprochen. Ein deutsches „Wohnanhänger-Pärchen“ musste umkehren. Nötig ist, das Visum vorher zu beschaffen oder von einer Agentur (gegen Aufpreis) besorgen zu lassen. Je kürzer die Frist bis zum Reisetermin ist, desto teurer wird das Visum. Eine Hotelbuchung vorab, die Reiseagenturen ebenfalls übernehmen (Preisaufschlag), kann den Preis des Visums reduzieren. Unsere Erfahrung ist allerdings, dass deutschen Individualtouristen recht teure Zimmer (bis zu 80 Euro p.P) angeboten werden – falls das russische Hotel auf Anfrage (die meist ja wohl in Englisch erfolgt) überhaupt antwortet. Hotel-Adressen im Internet (Fax-, E-Mail-Verbindung) sind mitunter von vorgestern, nämlich längst ungültig.

Eine seltsame Spielregel der Russen besagt, man brauche zum Besuch der Königsberger Region eine Einladung. Ein entsprechendes Dokument beschaffte uns die in Anspruch genommene Reiseagentur zusammen mit dem Visum. Abgestempelt ist das Papier von einem Moskauer Büro. Es verweist in Russisch darauf, dass der Inhaber des Reisepasses XYZ von einer zertifizierten russischen Organisation („Filand“) in Kaliningrad empfangen wird. Zum Procedere gehört eine Kaliningrader Adresse (Kalinin-Straße 9) mit Telefon- und Fax-Nummer. Von hier werden bei Bedarf Zimmer vermittelt und gewünschte Exkursionen betreut. Und: Eine „Marschroute“ weist zur (offenbar einzigen?) Geldwechselstelle in der Stadt (Leninstraße 81).

Jede Übernachtung in der russischen Enklave wollten wir uns, vor allem aber unseren Motorrädern von vorn herein schenken, nachdem es uns nicht gelungen war, Zimmer in einem Hotel mit Tiefgarage oder bewachtem Parkplatz zu buchen. Dass das Passieren der polnisch-russischen Grenze bei Mamorovo (Heiligenbeil) eine zeitraubende Angelegenheit werden könne, war uns zu Ohren gekommen. Was wir für ein Gerücht hielten, erwies sich als geschönte Wahrheit. Die Erledigung sämtlicher Formalitäten beanspruchte in unserem Fall geschlagene zwei Stunden. Unvorstellbar, was in dieser Zeit ablief. Mit stoischer Gelassenheit veranstalten die Russen bürokratische Festspiele, die bei einem Touristen glatt Gedanken zur Umkehr aufkommen lassen – soweit er nicht in einem Reisebus sitzt, dem gruppendynamischen Zwang unterliegt und einem Reiseleiter hat, der sich um alles kümmert. Es ist, als wollten die Grenzer jedermann diese eine Lehre erteilen: Wer auf die Idee kommt, uns zu besuchen, ist selbst schuld.

Nicht der Rede wert sind Vorgänge, die man an einer EU-Außengrenze erwarten muss: Anstehen vor der Schranke, Passkontrolle, Abstempeln des Visums. Der Hammer kommt, wenn man innerlich schon zu frohlocken beginnt, dass bereits alles vorbei sein könnte. Nein, noch lange, lange nicht! Erst einmal ist das Fahrzeug wie angewiesen zu parken. Unsere Motorräder durften großzügigerweise im unmittelbaren Aktionsbereich der Grenzbeamten abgestellt werden. Die hatten da mal was zu beäugen, und wir durften das uniformierte Interesse und Wohlwollen genießen, bescherte es uns doch ein Gefühl der Sicherheit für unsere Maschinen, das auf der ganzen Reise kaum mehr zu toppen sein würde.

Dann ging der Hürdenlauf los; von einem Bürocontainer zum anderen, der Wechsel von einer Warteschlage zur anderen. Die Etappen sind genau vorgegeben, aber man muss den geforderten Ablauf ja auch erst einmal ergründen. Prinzip:Einer sagt’s dem anderen. Los geht’s mit dem Geldumtausch zur anschließenden Begleichung der russischen Fahrzeug-Haftpflichtversicherung durch die russische Gesellschaft „Ingosstrakh“ (die bestehende deutsche Versicherung wird nicht anerkannt). Dann Abschluss dieser Versicherung, Ablichtung von Pass und Fahrzeugschein, Abgabe beim Zoll und Ausfüllen eines Zolldokuments. Dass in unseren Seitenkoffern weder Panzerfaust noch Drogenpakete versteckt waren, nahm man uns prompt ab. Dann die Unterschrift unter die Verpflichtungserklärung, das eingeführte Fahrzeug auch brav wieder auszuführen Der Beleg wird bei der Ausreise abgefordert. Zum Beweis ist gewissermaßen das Motorrad vorzuzeigen. Nicht nur für das amtliche Kennzeichen, auch die Farbe des Bikes vergleicht das wache Auge der Beamten mit der abgegebenen Erklärung. Als ob ein Einfältiger auf die Idee käme, sein teures Gefährt aus Schabernack umzulackieren!

Frust kommt auf bei dieser Mischung aus Misstrauen und Zettelwirtschaft. Wenigstens fiel unser Blick durch die Abfertigungsluken ab und zu auf die viel versprechenden Dekolletés der durchweg hübschen Bearbeiterinnen, die ihren dienstlichen Auftrag in sommerlich-luftigem Zivil erledigen durften. Welch göttlicher Lichtblick in dieser weltlich-bürokratischen Tippeltappeltour! Doch aufkommende Sympathie für die Schönen machten deren gelangweilte Fingerübungen auf der Tastatur ihrer Computer sofort wieder zunichte, erst recht ihre betulichen handschriftlichen Eintragungen in diverse Vordrucke. Warum bloß müssen so nette Mädels einen so miesen Job machen!

Nach der ominösen „Einladung“, die – wie es hieß – Individualtouristen beim Grenzübertritt vorzuzeigen hätten, wurden wir von niemandem gefragt. Auf dem Einreise-Formular; auf dem unter anderem nach dem Reiseziel gefragt wird, die Kaliningrader Adresse des Moskauer „Einladungsbüros“ anzugeben, kann aber sicher nicht falsch sein. Bei uns Motorradfahrern genügte, als Ziel und Grund für den Besuch Königsbergs „Tourisimus“ anzugeben. Allerdings reisten wir am selben Tag schon wieder aus. Übrigens: Auch für die in Deutschland abzuschließende zusätzliche Krankenversicherung interessierte sich niemand.

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Gleich nach der Einreise in die russische Enklave ein Denkmal, das an den Krieg erinnert …

Irgendwann hatten aber auch wir es geschafft. Grünes Licht, die Schranke hob sich, wir durften in Richtung Königsberg starten. Mit den Eindrücken unterwegs auf der Fahrt in die Stadt hatte man irgendwie gerechnet. Öd die Landschaft, sanierungsreife Häuser mit rostigen Blechdächern entlang der Straße, landwirtschaftlich ungenutzte Flächen ringsum, im ersten Ort ein Monument „Ewiger Ruhm den Helden der Sowjetarmee“. Wissen muss man, dass die Region Kaliningrad bis 1993 militärisches Sperrgebiet war. Das folgenreiche Jahr 1945 ist noch heute überall zu spüren. Schließlich aber doch eine Überraschung: Direkt an der Straße A194 nach Königsberg ein einladendes, idyllisch an einem See gelegenes schickes Restaurant mit großzügiger Terrasse direkt am Wasser, auf dem ein halbnackter Jüngling unablässig Jetski-Showrunden drehte. Offenbar wusste er zu imponieren. Seinen stolzen Jeep hatte er – logo! – auffällig am Sandstrand geparkt. Wir lenkten unsere Blicke aber lieber auf die Speisekarte des Restaurants, die reichhaltiger nicht sein konnte – und die Bedienung nicht freundlicher. Dass die aufgeweckten jungen Mädels nur Russisch sprachen, tat ihrem auffälligen Bemühen um besten Service keinerlei Abbruch. Wir hatten viel Spaß.

Königsberg! Für einen Abstecher zum Dom ließen wir uns viel Zeit, die Stadt aber erkundeten wir lediglich fahrend.Schließlich wollten wir bis am Abend den litauischen Teil der Kurischen Nehrung erreicht haben, um dort zu übernachten. Kaliningrad alias Königsberg – beim flüchtigen Kennenlernen der Stadt gewonnene Eindrücke waren eher bedrückend. Offensichtlich ist den Russen tatsächlich zuerst daran gelegen gewesen, Zugang zur Ostsee zu haben. Die verblichene Restarchitektur des alten Königsbergs, dessen Innenstadt im August 1944 englischen Luftangriffen und die Außenbezirke Kampfhandlungen vor der Kapitulation im April 1945 zum Opfer fielen, scheint die neuen Herren der Region eher gestört zu haben. Heute prägt das Antlitz Königsbergs die typische Großräumigkeit sozialistischer Stadtgestaltung. Viele Straßen und Plätze taugen wohl für Aufmärsche und Kundgebungen, nicht aber fürs beschauliche Flanieren. Auch mit Monumenten ist die Region reich gesegnet. Sie sollen an die siegreiche Sowjetarmee erinnern, die polnisch-sowjetische Freundschaft wachhalten (was nicht leicht sein dürfte) oder russische Kosmonauten hochleben lassen.

Großstädtisch turbulent geht es auf den Magistralen zu. Schätzungsweise neunzig Prozent der verkehrenden Autos stammen nicht mehr als russischer Produktion. Pkws der Marken Audi, BMW und Mercedes haben absolut das Sagen. Unter sie mischen sich zuerst Vertreter japanischer Marken. Frei von Tücken sind selbst Königsbergs innerstädtische Straßen nicht. Pflasterpassagen, aus denen sich Schienen recken, die längst nicht mehr befahren werden, aber auch unvermittelt auftauchende Schlaglöcher im XXL-Format fordern den Spähsinn des Motorradfahrers permanent heraus. Russische Tankstellen locken mit Billigpreisen für Benzin und Super von etwa 40 Kopeken pro Liter. Wir hatten unsere Tanks noch in Polen randvoll gefüllt.

Über eine ausgeschilderte, leicht zu findende Ausfallstraße (Zelenogradsk/Granz) verließen wir die Stadt in Richtung Norden. Bevor der schmale Landstreifen der Kurischen Nehrung befahren werden kann, ist vor rotem Ampellicht und einer Schranke noch einmal ein stattlicher Obulus „für das Naturschutzgebiet“ zu entrichten. Aber woher die geforderten Rubel nehmen? Umgerechnet 15 (!)Euro pro Motorrad. – Lange Debatte an der Kasse. Nein, man nehme weder Euro noch Dollar oder akzeptiere Kreditkarten. Am Ende siegte nicht die Dienstvorschrift.

Über eine ganz passable, aber ab und zu mit Schlaglöchern gespickte Straße und eine kostenfreie (!) Fähre gelangten wir in die Hafenstadt Memel (heute Klaipeda). Am nächsten Tag ließen wir trotz Dauerregens von der Autobahn A1 Klaipeda-Kaunas nicht davon abhalten, die Etappe in Richtung Polen/Masurische Seen über litauische Landstraßen in Angriff zu nehmen, über die wir durchaus gut vorankamen. Vom dürftigen landschaftlichen Reiz der grenznahen Gegend waren wir allerdings eher enttäuscht. Die Grenzpassage Litauen-Polen machte die Demütigung durch die russische Bürokratie mehr als wett. Das ging so: Vorfahrt der vier Motorräder bis zum Schlagbaum. Zuruf des litauischen Grenzbeamten: „Deutschland?“ . Wir nicken. Eindeutige Handbewegung: „Na los dann!“ Das war’s dann auch schon. Wohltuende Schengen-Praxis. Sie begleitete uns Gott sei Dank bis nach Hause. Über die polnische Ostseeroute – die beeindruckend restaurierte Altstadt Danzigs ist sehenswert! – erreichten wir nach 2.500 Kilometern Motorradfreuden am achten Tag unserer Motorradtour wieder heimatliches Terrain. Unsere Viererbande war unterwegs stets guter Dinge. Schon sind unsere Gedanken bei einer nächsten Tour. Nur eine russische Grenzstation wird uns so bald ganz sicher nicht wieder sehen.

Innerhalb einer Woche lässt sich die Tour bequem machen, wenn nicht eine Fahrpause (zur Besichtigung irgendwelcher Sehenswürdigkeiten) die andere ablöst. Und nebenbei: Übernachtung, Gastronomie, Benzin (gutes Tankstellennetz) sind angenehm preiswert.
 
©  2006  by  Wolfram Riedel